1. Das Wichtigste in Kürze
Das sog. Bundesteilhabegesetz (BTHG) hat das Behinderungsrecht stark verändert. Die Reform sollte Menschen mit Behinderungen zu mehr Teilhabe und individueller Selbstbestimmung verhelfen. Die meisten Änderungen sind bereits 2017, 2018 und 2020 in Kraft getreten.
Die vollständige Umsetzung war ursprünglich bis 2023 geplant, aber die letzten Änderungen werden nicht in Kraft treten. Stattdessen gab es eine Gesetzesänderung im Jahr 2021 und nun fehlt noch eine Verordnung zum Abschluss des Projekts. Wann diese kommt, ist offen.
2. Hintergrund der Änderungen durchs Bundesteilhabegesetz
- Seit 26. März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland in Kraft und damit geltendes Recht in Deutschland.
- Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen prüft regelmäßig, ob die Vertragsstaaten die Konvention umsetzen.
- Ergebnis der ersten Prüfung waren die „Abschließenden Bemerkungen" vom 13. Mai 2015. Sie enthielten viele Kritikpunkte an der damaligen Rechtslage und Empfehlungen zur Umsetzung der Konvention durch Gesetzesänderungen, z.B.:
- Die gesetzliche Definition von Behinderung in Deutschland passte nicht zu den Bestimmungen der Konvention.
- Deutschland stellte nicht genügend Geld zur Verfügung, um ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen außerhalb von Einrichtungen zu ermöglichen.
- Deutschland hatte keinen inklusiven Arbeitsmarkt.
- Menschen mit Behinderungen mussten in zu hohem Umfang ihr persönliches Einkommen verwenden, um ihre behinderungsbedingten Bedarfe zu decken und selbstbestimmt leben zu können.
- Deutschland stellte Menschen mit Behinderungen zu wenige soziale Dienstleistungen für Inklusion, Selbstbestimmung und Teilhabe zur Verfügung.
Das BTHG sollte diese Probleme lösen und die Behindertenrechtskonvention in Deutschland umsetzen, doch viele bestehen weiterhin.
3. Ziele des Bundesteilhabegesetzes
- Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen aus dem "Fürsorgesystem" (gemeint ist die Sozialhilfe) herausführen und zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickeln.
- Die Leistungen für Menschen mit Behinderungen nicht länger institutions-, sondern personenzentriert ausrichten. Das bedeutet, sie orientieren sich am persönlichen Bedarf des Einzelnen und nicht an den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen (= Institutionen).
- Es wird ein Perspektivenwechsel entsprechend der UN-Behindertenrechtskonvention vollzogen:
- Von der Ausgrenzung zur Inklusion
- Von der Einrichtungs- zur Personenzentrierung
- Von der Fremd- zur Selbstbestimmung
- Von der Betreuung zur Assistenz
- Vom Kostenträger zum Dienstleister
- Von der Defizitorientierung zur Ressourcenorientierung (im Mittelpunkt stehen die Fähigkeiten und Möglichkeiten, nicht die Einschränkungen)
Folgende konkreten Ziele hatte das Änderungsgesetz:
- Neufassung des Behinderungsbegriffs, einem inklusiven Gesellschaftsverständnis entsprechend
- Teilhabeleistungen "wie aus einer Hand" statt mit hohem bürokratischem Aufwand, z.B. durch Doppelbegutachtungen
- Stärkung der Menschen mit Behinderungen im Verhältnis zu den Kostenträgern und Leistungserbringern durch ergänzende unabhängige Teilhabeberatung
- Anreize, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten
- Stärkung der Möglichkeiten zu individueller, den persönlichen Wünschen entsprechender Gestaltung und Planung des eigenen Lebens
- Verbesserung der Teilhabe an Bildung, besonders auch für Menschen mit Behinderungen, die studieren
- Verbesserte Zusammenarbeit der Reha-Träger
- Anstieg der Ausgaben für die Eingliederungshilfe bremsen, der dadurch entstanden ist, dass es immer mehr alte Menschen mit Behinderungen gibt
- Vorbeugende Maßnahmen, damit Menschen gar nicht erst Eingliederungshilfe brauchen, in den Bereichen Grundsicherung für Arbeitsuchende und Rentenversicherungsleistungen
- Stärkung ehrenamtlicher Vertretung von Menschen mit Schwerbehinderungen
4. Inhalt des BTHG
Die wichtigsten Inhalte des BTHG im Überblick:
- Prävention: Einer Behinderung soll möglichst frühzeitig entgegengewirkt werden. Die Reha-Träger werden verpflichtet, gezielt vorbeugende Maßnahmen anzubieten. Ziel ist auch, die Erwerbsfähigkeit als wichtigen Teil der Teilhabe zu erhalten.
- Ein einziger Reha-Antrag: Seit 2018 reicht ein einziger Antrag aus, um ein umfassendes Verfahren zur Bedarfsermittlung in Gang zu setzen. Dabei wird zusammen mit der betroffenen Person erfasst, welche Leistungen sie benötigt. Es müssen nicht mehr Leistungen verschiedener Träger einzeln beantragt werden, sondern ein "leistender Träger" koordiniert alle Maßnahmen.
Näheres unter Rehabilitation > Zuständigkeit und Teilhabeplanverfahren.
- Ergänzende unabhängigeTeilhabeberatung (EUTB): Deutschlandweit wurden unabhängige Beratungsstellen aufgebaut, um Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohten Menschen einen einfachen Zugang zu einer unabhängigen Beratung zu all ihren Fragen zu ermöglichen. Für die Beratung werden möglichst Menschen eingesetzt, die ebenfalls von einer Behinderung betroffen sind (sog. Peer Counseling), da diese aus ihrer Erfahrung heraus wichtige Informationen vermitteln können.
Näheres unter unabhängige Teilhabeberatung.
- Neuausrichtung von Leistungen: Bestehende Leistungen wurden konkretisiert und ergänzt.
- Das "Budget für Arbeit" soll Menschen mit Behinderungen eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen. Es beinhaltet einen Lohnkostenzuschuss an den Arbeitgeber sowie Betreuungsleistungen für Menschen mit Behinderungen. Zur Teilhabe am Arbeitsleben siehe auch Berufliche Reha > Leistungen.
- Das "Budget für Ausbildung" soll Menschen mit Behinderungen eine Ausbildung bei einem privaten oder öffentlichen Arbeitgeber ermöglichen. Es beinhaltet eine Erstattung der Ausbildungsvergütung sowie Anleitung und Begleitung am Ausbildungsplatz und in der Berufsschule.
- Die Leistungen zur Teilhabe an Bildung sollen Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe an Bildungsangeboten auf allen Qualifikationsstufen ermöglichen.
- Eltern mit Behinderungen haben Anspruch auf Leistungen zur Unterstützung bei der Versorgung, Erziehung und Pflege ihrer Kinder.
Näheres unter Elternassistenz für Eltern mit Behinderungen.
- Gestärkte Vertretungsrechte: Schwerbehindertenvertretungen wurden in ihren Rechten und Ansprüchen gestärkt: Keine Kündigung eines schwerbehinderten Menschen ohne Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung, besserer Anspruch auf Freistellung und Fortbildung der Schwerbehindertenvertretung, Frauenbeauftragte in jeder Werkstatt für behinderte Menschen.
- Mehr Einkommen: Die Eingliederungshilfe wurde aus der Sozialhilfe herausgelöst, damit Menschen mit Behinderungen nicht mehr große Teile ihres Einkommens und Vermögens einsetzen müssen, um Leistungen zu finanzieren. Das soll auch als Anreiz funktionieren, zu arbeiten. Das Einkommen und Vermögen ihrer Ehepartner bleibt seit 1.1.2020 unberührt. Näheres unter Eingliederungshilfe > Einkommen und Vermögen.
- Leistungen unabhängig von der Wohnform: Bisher waren Leistungen für Menschen mit Behinderungen maßgeblich von der Wohnform abhängig (z.B. Wohnung oder Einrichtung). Nun orientieren sich die Leistungen an den individuellen Bedürfnissen des Menschen mit Behinderungen.
- Qualitätskontrolle: Es findet ein "Gesamtplanverfahren" statt, wodurch Leistungen besser aufeinander abgestimmt und deren Qualität überprüft werden. So können Anbieter sanktioniert werden, wenn sie vereinbarte Leistungen nicht zufriedenstellend erbringen. Näheres unter Teilhabeplanverfahren.
- "Poolen" von Leistungen: Bestimmte Assistenzleistungen, z.B. Schulbegleitung, können für mehrere Menschen gemeinschaftlich erbracht werden, wenn dies zumutbar ist. Dadurch sollen kostenintensive Leistungen wirtschaftlicher eingesetzt werden.
5. Schrittweise Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes
Die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes verlief schrittweise:
Reformstufe 1 (2017):
- Änderungen im Schwerbehindertenrecht, u.a.:
- Neues Merkzeichen TBI für Taubblinde
- Geänderte Voraussetzungen für das Merkzeichen aG, um nicht nur orthopädische, sondern auch andere ursächliche Gesundheitsstörungen zu berücksichtigen
- 1. Stufe bei Verbesserungen in der Einkommens- und Vermögensheranziehung
- Verdoppelung des Arbeitsförderungsgelds auf 52 €
Reformstufe 2 (2018):
- Einführung des SGB IX, Teil 1 (Verfahrensrecht) und 3 (Schwerbehindertenrecht)
- Vorgezogene Verbesserungen im Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in der Eingliederungshilfe (im SGB XII)
- Einführung des Gesamtplanverfahrens der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
Reformstufe 3 (2020):
- Einführung Teil 2 "Eingliederungshilfe" (EGHneu) des SGB IX und Streichung der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII: Trennung von Leistungen der Eingliederungshilfe von existenzsichernden Leistungen (Sozialhilfe), Näheres unter Eingliederungshilfe > Abgrenzung zu Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
- 2. Stufe bei Verbesserungen in der Einkommens- und Vermögensheranziehung, siehe Eingliederungshilfe > Einkommen und Vermögen:
- Der Einkommensfreibetrag wird jährlich angepasst und ist abhängig von der Art des Einkommens. Liegt der Verdienst darüber, muss ein Eigenbeitrag geleistet werden.
- Der Vermögensfreibetrag steigt auf 63.630 € (2024 = 150 % der jährlichen Bezugsgröße) und wird jährlich angepasst.
- Das Partnereinkommen und -vermögen wird nicht mehr herangezogen.
Reformstufe 4 (2023):
Der leistungsberechtigte Personenkreis in der Eingliederungshilfe (§ 99 SGB IX) sollte neu definiert werden, um die Regeln an den modernen Behinderungsbegriff anzupassen. Eine Behinderung wird heute nicht mehr als Eigenschaft einer Person definiert, sondern als Zusammenspiel einer Beeinträchtigung/Besonderheit eines Menschen mit Barrieren in der Außenwelt. Näheres unter Behinderung. Die Sprache sollte so geändert werden, dass sie nicht mehr diskriminierend wirkt.
Ziel war es, dadurch nichts daran zu ändern, wer ein Recht auf Eingliederungshilfe hat. Deshalb wurde festgelegt, dass vorab wissenschaftlich untersucht wird, ob dieses Ziel erreicht werden kann. Es hat sich dabei herausgestellt, dass das nicht funktioniert. Deshalb tritt diese geplante Reform nicht in Kraft.
Stattdessen wurde schon mit dem Teilhabestärkungsgesetz im Jahr 2021 der § 99 SGB IX in anderer Weise geändert. Nur die Sprache wurde geändert, nicht aber der Inhalt. Die gesetzliche Regelung nimmt immer noch Bezug auf die sog. Eingliederungshilfe-Verordnung, die schon nicht mehr gültig ist und diskriminierend wirkende Formulierungen enthält, die nicht zum modernen Behinderungsbegriff passen.
Diese Verordnung soll durch eine neue Verordnung (Verordnung über die Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe, VOLE) ersetzt werden, wann ist noch offen.
6. Praxistipps
7. Wer hilft weiter?
Fragen beantwortet das Bürgertelefon zum Thema Behinderung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales unter 030 221911-006, Mo–Do von 8–17 und Fr 8–12 Uhr.
8. Verwandte Links
Assistenzleistungen
Behinderung
Behinderung > Leistungen zur Mobilität
Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation BAR
Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischen Behinderungen
Frühförderung von Kindern mit Behinderungen
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