Kinder, Jugendliche und junge Volljährige mit seelischen Behinderungen können Eingliederungshilfe vom Jugendamt bekommen (§ 35a SGB VIII, deshalb auch 35a-Hilfe genannt). Eine seelische Behinderung setzt eine die gesellschaftliche Teilhabe bedrohende oder beeinträchtigende psychische Störung oder Verhaltensstörung voraus. Beispielsweise können Angststörungen, Depressionen, Psychosen, Autismus, ADHS oder Essstörungen dazu führen, dass die Betroffenen die Schule nicht ohne Hilfe besuchen können, mit den Eltern nicht zurecht kommen oder ihren Freizeitbeschäftigungen nicht nachgehen können. Die Betroffenen haben einen Rechtsanspruch auf vielfältige ambulante und stationäre Hilfen, z.B. Schulbegleitung, Freizeitassistenz oder Unterbringung in einer heilpädagogischen Einrichtung.
Hier geht es um Eingliederungshilfe vom Jugendamt. Meistens sind aber für die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung nicht die Jugendämter, sondern die Träger der Eingliederungshilfe zuständig. Eine genaue Abgrenzung finden Sie unten.
Die Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII, sog. 35a-Hilfe, erhalten Kinder, Jugendliche und junge Volljährige unter folgenden Voraussetzungen:
Die Abweichung der seelischen Gesundheit und ihre voraussichtliche Dauer muss mit einer fachlichen Stellungnahme (siehe unten) nachgewiesen werden. Die Beeinträchtigung oder drohende Beeinträchtigung der Teilhabe muss das Jugendamt selbst feststellen.
Auf die Leistungen besteht bis zum 21. Geburtstag ein Rechtsanspruch, das heißt, wenn die Voraussetzungen vorliegen, muss die Leistung auch bewilligt werden. Geschieht das nicht, kann der Anspruch eingeklagt werden.
Für junge Volljährige bis zum 21. Geburtstag müssen allerdings zusätzlich die Voraussetzungen der Hilfe für junge Volljährige vorliegen. Liegen diese nicht oder nicht mehr vor, ist statt des Jugendamts der Träger der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX zuständig. Das Jugendamt hat die Pflicht, für einen nahtlosen Übergang bei diesem Zuständigkeitswechsel zu sorgen.
Vom 21. bis zum 27. Geburtstag soll in begründeten Einzelfällen das Jugendamt die Leistungen weiterfinanzieren.
Näheres unter Hilfe für junge Volljährige.
Abweichungen der seelischen Gesundheit sind z.B.:
Teilleistungsstörungen sind zwar aus medizinischer Sicht Abweichungen der seelischen Gesundheit (Fachausdruck ist "umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten"), aber aus rechtlicher Sicht sind es eher "geistige Beeinträchtigungen". Damit die Eingliederungshilfe gewährt wird, muss deshalb zu der reinen Teilleistungsstörung noch eine sog. sekundäre Neurotisierung dazu kommen. Sekundäre Neurotisierung bedeutet, dass es durch die Teilleistungsstörung zu seelischen Problemen gekommen ist, für die eine eigene medizinische Diagnose gestellt werden kann. Beispiele für sekundäre Neurotisierung sind eine über das normale Maß hinausgehende Schulangst, andere Angststörungen, Anpassungsstörungen und Depressionen.
Wenn eine Teilleistungsstörung die Teilhabe in der Schule und in der Gemeinschaft mit Gleichaltrigen beeinträchtigt, liegt in aller Regel auch eine sekundäre Neurotisierung vor.
ADHS ist aus medizinischer Sicht klar eine Abweichung der seelischen Gesundheit und keine Teilleistungsstörung oder Intelligenzminderung. Trotzdem verlangen viele Jugendämter neben ADHS eine weitere Diagnose im Sinne einer sekundären Neurotisierung. Dieses Vorgehen ist rechtlich umstritten. Deshalb kann sich ein Widerspruch und ggf. eine Klage gegen eine Ablehnung wegen fehlender "sekundärer Neurotisierung" lohnen.
Bei Autismus können neben einer Abweichung der seelischen Gesundheit auch Schwierigkeiten mit dem Sprechen, Wahrnehmungsstörungen und/oder eine Intelligenzminderung vorliegen. Autismus gilt daher in manchen Fällen als reine seelische Behinderung und das Jugendamt ist für die Eingliederungshilfe zuständig. In anderen Fällen gilt er hingegen als sog. Mehrfachbehinderung (auch geistige bzw. körperliche Behinderung) und der Träger der Eingliederungshilfe ist zuständig. Näheres siehe unten unter "Abgrenzung zur Eingliederungshilfe nach dem SGB IX".
Die Abweichung des seelischen Gesundheitszustands wird von Fachkräften der folgenden Berufsgruppen festgestellt:
Das Jugendamt muss deshalb, wenn Leistungen nach § 35a SGB VIII in Betracht kommen oder beantragt wurden, immer eine Stellungnahme einer solchen Fachkraft einholen. Oft tun sie das, indem sie die Eltern auffordern, die Stellungnahme zu besorgen.
Wenn Eltern die fachliche Stellungnahme einholen, müssen sie beachten:
Teilhabebeeinträchtigung bedeutet, etwas nicht oder nicht gleichberechtigt mitmachen zu können.
Teilhabebeeinträchtigungen können in verschiedenen Lebensbereichen auftreten:
Für einen Anspruch auf Eingliederungshilfe reicht es aus, wenn in nur einem Lebensbereich die Teilhabe beeinträchtigt ist oder wenn die Beeinträchtigung droht. Beispiele: Ein Jugendlicher kommt in der Schule gut zurecht, kann aber nicht ohne Hilfe Freizeitbeschäftigungen nachgehen. Ein Kind erlebt Mobbing in der Schule, kommt aber sonst mit seiner seelischen Abweichung gut zurecht.
Ob und inwiefern die Teilhabe beeinträchtigt ist, wird im Hilfeplanverfahren festgestellt. Näheres unter Jugendamt und Teilhabeplanverfahren.
Eine drohende Teilhabebeeinträchtigung setzt voraus, dass
In der Praxis kommt diese "fachliche Erkenntnis" meistens aus der Stellungnahme, die auch die Abweichung des seelischen Gesundheitszustands feststellt. Während die Abweichung des seelischen Gesundheitszustands nur von den oben aufgezählten Fachkräften festgestellt werden kann, gilt das hier aber nicht. Das Jugendamt darf also auch die Einschätzung anderer Fachkräfte heranziehen , z.B. die einer Lehrkraft, ein allgemeinmedizinisches Gutachten, die Stellungnahme einer Kita oder den Bericht einer Frühförderstelle.
Eingliederungshilfe soll
Ziel der Eingliederungshilfe ist die Inklusion in der Gesellschaft. Die individuellen Ziele der Eingliederungshilfe muss das Jugendamt mit dem Betroffenen und seinen Bezugspersonen erarbeiten und soll sie im Hilfeplan festschreiben.
Das Jugendamt erbringt die Eingliederungshilfe wegen rein seelischer Behinderung nach dem 8. Sozialgesetzbuch (SGB VIII).
Bei einer körperlichen oder geistigen Behinderung sind die Träger der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen nach dem SGB IX zuständig.
Bei Mehrfachbehinderungen ist die Zuständigkeit folgendermaßen geregelt:
Beispiel: Ein Kind hat eine Teilhabebeeinträchtigung wegen ADHS (seelische Behinderung) und wegen Epilepsie (körperliche Behinderung)
Situation A |
Situation B |
Sowohl wegen ADHS als auch wegen einer Epilepsie besteht ein Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form von Schulbegleitung. |
Nur das ADHS begründet einen Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form von Schulbegleitung, die Epilepsie nicht. Es treten nur Anfälle auf, die keine Schulbegleitung erforderlich machen. |
Folge: Träger der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX ist zuständig. |
Folge: Jugendamt ist zuständig. |
Streitigkeiten über die Zuständigkeit, müssen die Kostenträger im Rahmen einer Kostenerstattung klären, Näheres siehe Rehabilitation > Zuständigkeit unter "Zuständigkeitsklärung".
Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) sieht vor, dass die Jugendämter ab 2028 immer für die Eingliederungshilfe zuständig werden, auch, wenn die jungen Menschen eine körperliche und/oder geistige Behinderung haben. Allerdings ist der Anspruch auf Eingliederungshilfe vom Jugendamt bei körperlichen und geistigen Behinderungen im KJSG noch nicht geregelt. Dafür ist ein Bundesgesetz geplant, das bis Ende 2026 erlassen werden soll.
Vorbereitend wurden für die Zeit vom 1.1.2024 bis zum 31.12.2027 sog. Verfahrenslotsen eingeführt. Diese sollen die Jugendämter darauf vorbereiten, ab 2028 die Eingliederungshilfe auch für junge Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen zu erbringen. Die wichtigste Aufgabe der Verfahrenslotsen ist es jedoch, Kinder und Jugendliche mit (drohender) Behinderung und deren Familien zu unterstützen und zu begleiten, egal ob es eine körperliche, geistige oder seelische Behinderung ist. Verfahrenslotsen sind unabhängig und helfen den jungen Menschen mit Behinderungen dabei, ihr Recht auf Eingliederungshilfe durchzusetzen.
Zu den Aufgaben der Verfahrenslotsen zählen u.a.:
Nähere Informationen zu den Verfahrenslotsen bietet das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. (DIJuF) unter https://dijuf.de > Handlungsfelder > Inklusives SGB VIII > Verfahrenslotse.
Es ist geplant, dass es die Verfahrenslotsen auch noch nach 2027 geben soll, aber das ist noch nicht gesetzlich geregelt.
Für Kinder und Jugendliche mit seelischen Behinderungen bietet die Kinder- und Jugendhilfe sehr vielfältige Hilfeformen:
Anspruch besteht auf alle Hilfen, die geeignet und notwendig sind, um die Ziele der Eingliederungshilfe zu erreichen. Welche konkreten Leistungen einem jungen Menschen zustehen, wird in einem pädagogischen Prozess in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten und mehreren Fachkräften ausgehandelt und dann festgelegt.
Beispiele
Über die Eingliederungshilfe können auch ungewöhnliche und neuartige Hilfen gewährt werden, wenn nur diese den Bedarf decken können.
Fallbeispiel: Der körperlich sehr starke 17-jährige Johann hat eine psychische Störung mit wiederkehrenden, von ihm nicht kontrollierbaren und für sein Umfeld sehr gefährlichen Ausrastern. Deswegen kann ihn auch keine Jugendhilfeeinrichtung oder Pflegefamilie betreuen. Er könnte nur dauerhaft in einer geschlossenen Psychiatrie mit starken und gesundheitsschädlichen Medikamenten ruhig gestellt werden, was für ihn bedeuten würde, sich nicht weiterentwickeln zu können und weder selbstbestimmt, noch in Würde leben zu können.
Damit er zu Hause bei seiner Familie ein möglichst normales Leben führen kann, bekommt er als Eingliederungshilfe vom Jugendamt einen Tag und Nacht ohne Pausen, in seiner unmittelbaren Nähe verfügbaren, Sicherheitsdienst zur Seite gestellt. Zwei Mitarbeitende des Sicherheitsdiensts fixieren Johann bei Bedarf bei Ausrastern. Das Jugendamt hatte vorher noch nie eine solche Leistung erbracht.
Die ambulanten Hilfen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII sind für die Betroffenen und ihre Familien kostenfrei.
Bei stationären und teilstationären Leistungen müssen die Eltern und der junge Mensch abhängig von Einkommen und Vermögen einen Kostenbeitrag leisten. Hierzu fordert das Jugendamt dann eine Erklärung zur wirtschaftlichen Situation in einem Formular. Auch bei der Eingliederungshilfe vom Jugendamt für junge Volljährige müssen die Eltern ggf. Kostenbeiträge zahlen.
Eingliederungshilfe vom Träger der Eingliederungshilfe für Volljährige ist hingegen für die Eltern kostenlos. Nur die Volljährigen selbst müssen ggf. etwas dafür bezahlen, Näheres unter Eingliederungshilfe > Einkommen und Vermögen.
Die Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII können beim Jugendamt vor Ort beantragt werden. Teilweise sind dafür deren Allgemeine Sozialdienste (ASD) zuständig, aber manche Jugendämter haben auch spezialisierte Stellen für die Eingliederungshilfe. Vor einem Antrag ist es sinnvoll, zunächst dort anzurufen und einen persönlichen Termin zu vereinbaren. In der Regel gibt der Sachbearbeiter des ASD den Eltern alle nötigen Unterlagen und hilft bei der Antragstellung. Oft finden die Familien beim Jugendamt eine offene und freundliche Atmosphäre vor.
Bei Problemen ist es hingegen ratsam, einen formlosen schriftlichen Antrag auf Leistungen nach § 35a SGB VIII zu stellen. Diesem Antrag sollten dann medizinische und psychologische Gutachten oder Befundberichte beigelegt werden, welche die Abweichung der seelischen Gesundheit klar belegen. Wichtig ist, dass diese von Fachkräften stammen, die die Abweichung der seelischen Gesundheit feststellen dürfen (siehe die Liste oben). Günstig wirkt es sich aus, wenn solche Fachkräfte bestimmte Hilfen empfehlen oder sogar für erforderlich erklären.
Ein schriftlicher Antrag sollte möglichst persönlich in der Behörde abgegeben werden. Hilfreich ist es, zur Antragsabgabe eine Kopie des Antrags mitzubringen und sich auf der Kopie den Eingang bestätigen zu lassen.
Volljährige müssen die Leistungen selbst beantragen. Bis zum 15. Geburtstag müssen die Sorgeberechtigten den Antrag für ihr Kind stellen. Zwischen dem 15. und 18. Geburtstag können sowohl die Sorgeberechtigten als auch der junge Mensch selbst den Antrag stellen.
Das Jugendamt ist für die Unterhaltsleistungen (Unterhaltsleistungen Jugendamt) zuständig, wenn dem jungen Menschen Hilfe außerhalb des Elternhauses gewährt wird (§ 39 Abs. 1 SGB VIII), nicht bei ambulanter Eingliederungshilfe.
Ein Taschengeld (Barbetrag) steht dem jungen Menschen bei vollstationärer Eingliederungshilfe persönlich zur Verfügung (§ 39 Abs. 2 SGB VIII). Die Höhe setzen die Landesbehörden fest. Bei ambulanter Eingliederungshilfe zahlen die Jugendämter kein Taschengeld.
Krankenhilfe (§ 40 SGB VIII) wird geleistet, wenn für den jungen Menschen kein Krankenversicherungsschutz besteht (in der Regel über die Familienversicherung abgedeckt). Krankenhilfe wird nur bei Heimerziehung und Vollzeitpflege gewährt, nicht bei ambulanten oder teilstationären Eingliederungshilfen.
Der Leistungsumfang entspricht der Gesundheitshilfe des Sozialamts.
Wenn die Aushandlung mit dem Jugendamt scheitert und der Bedarf eines jungen Menschen nicht, nicht ausreichend oder nicht rechtzeitig gedeckt wird, kann ein Widerspruch gegen einen ablehnenden Bescheid und ggf. eine Klage oder ein Antrag auf einstweilige Anordnung (gerichtliches Eilverfahren) an das Verwaltungsgericht vor Ort Erfolg versprechen. Obwohl es sich um Sozialrecht handelt, ist ausnahmsweise nicht das Sozialgericht zuständig.
In Eilfällen können Eltern sich die Leistung auch selbst beschaffen, also z.B. selbst eine Schulbegleitung einstellen. Wegen hoher formaler Anforderungen sollte hierfür möglichst schon vorab anwaltliche Hilfe in Anspruch genommen werden, und wenn das nicht möglich ist unabhängige Teilhabeberatung.
Individuelle Auskünfte erteilt das Jugendamt.
Vor, während und nach dem Hilfeplanverfahren kann kostenfrei unabhängige Teilhabeberatung in Anspruch genommen werden. Sie hilft auch dann weiter, wenn es Schwierigkeiten mit dem Jugendamt gibt.
Sozialpädiatrische nichtärztliche Leistungen
Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
Leistungen zur sozialen Teilhabe
Leistungen für Menschen mit Behinderungen
Leistungen für Eltern, Kinder und Jugendliche
Rechtsgrundlagen: §§ 35a, 39, 40 SGB VIII - Kapitel 6 des Teils 1 SGB IX - § 90 SGB IX - Kapitel 3 bis 6 des Teils 2 SGB IX