Frau Müller ist 1963 geboren. Sie bekommt zur Zeit ihres 61. Geburtstags starke Rückenschmerzen und Depressionen, die sich trotz Behandlung nicht wesentlich bessern. Deshalb kann sie nicht weiter in ihrem Beruf als Ingenieurin arbeiten. Es ist unklar, ob und in welchem zeitlichen Umfang sie noch etwas anderes arbeiten könnte. Wie kann sie am besten die Zeit bis zur Altersrente überbrücken? Was ist für sie finanziell sinnvoll und wie kann sie Rentenabschläge vermeiden?
In den ersten 6 Krankheitswochen bekommt Frau Müller als Entgeltfortzahlung ihr normales Gehalt in voller Höhe von ihrem Arbeitgeber weitergezahlt. Sie ist krankgeschrieben, ist also für ihre bisherige Tätigkeit arbeitsunfähig und erfüllt damit die wichtigste Voraussetzung für die Entgeltfortzahlung.
Während der Entgeltfortzahlung bleibt Frau Müller über ihre Arbeit gesetzlich rentenversichert, das heißt die Krankheit hat noch keine Auswirkungen auf die spätere Rente.
Danach hat sie Anspruch auf Krankengeld von ihrer Krankenkasse für bis zu 72 Wochen. Danach ist Frau Müller also 62,5 Jahre alt.
Auch während des Krankengeldbezugs bleibt Frau Müller gesetzlich rentenversichert. Das Krankengeld ist allerdings niedriger ist als ihr bisheriges Arbeitseinkommen. Deswegen sind auch die Rentenversicherungsbeiträge niedriger und das vermindert Frau Müllers späteren Rentenanspruch.
Wenn die Krankenkasse Frau Müller nahelegt, Arbeitslosengeld zu beantragen, sollte sie dem nicht nachkommen, sondern erst das Krankengeld so weit wie möglich ausschöpfen. Arbeitslosengeld ist nämlich niedriger als das Krankengeld und sowohl das Krankengeld als auch das Arbeitslosengeld haben eine zeitlich begrenzte Höchstbezugsdauer. Die Krankenkasse darf das Krankengeld nicht wegen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld ablehnen, sondern muss das Krankengeld selbst nach einer krankheitsbedingten Kündigung weiterzahlen.
Einer Aufforderung der Krankenkasse zu einem Reha-Antrag (Näheres unter Medizinische Rehabilitation > Antrag, Berufliche Rehabilitation > Leistungen) muss Frau Müller aber innerhalb der ihr gesetzten Frist nachkommen, sonst bekommt sie solange kein Krankengeld mehr, bis sie den Antrag nachgeholt hat. Stellt sie den Antrag erst später, dann bekommt sie erst ab diesem Zeitpunkt wieder Krankengeld. Die Zwischenzeit ohne Krankengeld darf die Krankenkasse nicht auf die Höchstdauer des Krankengeldanspruchs anrechnen. Frau Müller schiebt dadurch also ihren Anspruch nur auf.
Sie sollte dabei beachten:
Folgendes geschieht bei einer Bewilligung:
Bei einer Ablehnung läuft das Krankengeld normal weiter.
Frau Müller sollte aber mit einer langen Dauer bis zu einer Entscheidung der Rentenversicherung über ihren Reha-/Rentenantrag rechnen. Besonders, wenn sie gegen eine Ablehnung Widerspruch einlegt und nach abgelehntem Widerspruch Klage erhebt, kann es bis zu einer Entscheidung mehrere Jahre dauern.
Sie sollte sich also darauf einstellen, dass der Krankengeldbezug endet (= sog. Aussteuerung), bevor die Rentenversicherung eine volle Erwerbsminderung festgestellt hat.
Egal ob der Krankengeldbezug mit oder ohne einen Reha- bzw. Rentenantrag endet, kann Frau Müller nach der Aussteuerung Arbeitslosengeld bei der Agentur für Arbeit beantragen, auch wenn ihr bisher noch nicht gekündigt wurde.
Sie sollte ihre Arbeit nicht einfach selbst kündigen. So hält sie sich eine spätere Rückkehr an den früheren Arbeitsplatz (z.B. mittels stufenweiser Wiedereingliederung) bis zu einer krankheitsbedingten Kündigung offen. Wenn sie doch selbst kündigen will, sollte sie das unbedingt vorher mit der Agentur für Arbeit absprechen, um keine Sperrzeit beim Arbeitslosengeld (Näheres unter Arbeitslosengeld) zu riskieren.
Um Arbeitslosengeld bekommen zu können, muss sich Frau Müller zwingend dazu bereit erklären, eine neue Arbeit zu suchen und ggf. auch anzunehmen. Das ist nötig, obwohl sie nicht mehr dazu in der Lage ist, als Ingenieurin zu arbeiten und noch unklar ist, ob und wie lange sie überhaupt noch einer anderen Erwerbstätigkeit nachgehen könnte, also z.B. als Nachtwächterin oder als Putzhilfe. Frau Müller muss der Agentur für Arbeit mitteilen, dass sie zu einer leidensgrechten Arbeit in Vollzeit bereit ist, auch wenn sie annimmt, dass es keine gibt.
Wenn Sie sich nur zu einer Arbeit mit weniger Stunden als früher bereit erklärt, wird ihr Arbeitslosengeld entsprechend gekürzt. Sie sollte also auch dann erklären, in Vollzeit arbeiten zu wollen, wenn sie sich sicher ist, dass sie eine Vollzeitarbeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr schaffen würde.
Die Agentur für Arbeit darf Frau Müllers Antrag auf Arbeitslosengeld wegen der sog. Nahtlosigkeitsregelung nicht mit der Begründung ablehnen, sie sei nicht erwerbsfähig (= fähig für mindestens 3 Stunden pro Tag unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts zu arbeiten), solange die Rentenversicherung bei ihr (noch) keine volle Erwerbsminderung festgestellt hat.
Das soll verhindern, dass sie ohne finanzielle Absicherung dasteht, während ihr Rentenverfahren noch läuft, oder wenn die Rentenversicherung und die Agentur für Arbeit sich über die Erwerbsfähigkeit uneinig sind.
Frau Müller darf und sollte gleichzeitig der Rentenversicherung gegenüber sagen, dass sie ihrer Ansicht nach überhaupt nicht mehr über 3 Stunden pro Tag unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann und der Agentur für Arbeit, dass sie zu einer leidensgerechten Tätigkeit in Vollzeit bereit ist. Das klingt widersprüchlich, ist es aber nicht: Ein Mensch kann auch zu etwas bereit sein, was unmöglich erscheint. Die Offenheit dafür, dass es doch eine geeignete Arbeit geben könnte reicht aus.
Frau Müller sollte sich allerdings darauf einsellen, dass es schwer sein kann, die Anwendung der Nahtlosigkeitsregelung bei der Agentur für Arbeit durchzusetzen und dass es dafür Widerspruch und Klage gegen eine Arbeitslosengeldablehnung brauchen kann.
Die Höchstbezugsdauer fürs Arbeitslosengeld liegt bei Frau Müller bei 2 Jahren. Das ist die Höchstbezugsdauer für Menschen ab dem 58. Geburtstag die mindestens 4 Jahre in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Die Zeit im Krankengeldbezug zählt als Versicherungszeit mit.
Frau Müller sollte sich von der Agentur für Arbeit während des Bezugs von Arbeitslosengeld nicht zu einem Antrag auf vorgezogene Altersrente mit Abschlägen (Näheres unter Altersrente für langjährig Versicherte) drängen lassen, sondern ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld ausschöpfen.
Nach der Höchstbezugszeit des Arbeitslosengelds ist Frau Müller 64,5 Jahre alt.
Frau Müller sollte frühzeitig beim Versorgungsamt GdB-Feststellung beantragen, also sobald sie die medizinische Prognose bekommt, dass sie nicht innerhalb von 6 Monaten wieder ohne Einschränkungen im Alltag leben können wird. GdB ist die Abkürzung für den Grad der Behinderung, der die Stärke ihrer Behinderung durch ihre gesundheitlichen Einschränkungen angibt.
Ab einem GdB von 20 kann sie den Behindertenpauschbetrag von der Steuer absetzen. Aber erst ein GdB ab 50 ist eine anerkannte Schwerbehinderung und nur dann kann Frau Müller 2 Jahre früher als normal ohne Abschläge in die Altersrente gehen. Voraussetzung dafür ist, dass sie 35 Jahre Mindestversicherungszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllt. Näheres unter Altersrente für Menschen mit Schwerbehinderungen. Die Zeiten mit Krankengeld und Arbeitslosengeld zählen automatisch bei ihrer Mindestversicherungszeit dazu.
Bei Frau Müller ist das Erfüllen der Wartezeit von 35 Jahren kein Problem. Bei ihr waren die 35 Jahre schon längst erfüllt, bevor sie krank geworden ist.
Das reguläre Renteneintrittsalter für Frau Müller liegt auf Grund ihres Geburtsjahres bei 66 Jahren und 10 Monaten, also kann sie mit 64 Jahren und 10 Monaten in die abschlagsfreie Altersrente für Menschen mit Schwerbehinderungen gehen.
Wenn Frau Müller dagegen zwischenzeitlich selbstständig tätig gewesen wäre, wäre sie zeitweise nicht gesetzlich rentenversichert gewesen. Wenn sie dadurch mit 64 Jahren und 10 Monaten die 35 Jahre Vorversicherungszeit noch nicht zusammen hätte, könnte sie zu diesem Zeitpunkt trotz ihrer Schwerbehinderung noch nicht abschlagsfrei in die Altersrente gehen.
Falls Frau Müller Reha bekommen sollte, kann ihr der Sozialdienst der Reha-Einrichtung beim GdB-Antrag helfen. Anderenfalls sollte sie sich an ihre behandelnde Ärztin und zusätzlich an die unabhängige Teilhabeberatung vor Ort werden, um bei ihrem Antrag Hilfe zu bekommen.
Bei einer Verschlimmerung ihrer Symptome sollte Frau Müller wie folgt vorgehen:
Für Frau Müller liegen zwischen dem Auslaufen des Arbeitslosengelds und dem Eintritt in die Altersrente für Menschen mit Schwerbehinderung 4 Monate. Sie kann diese Zeit nicht finanziell mit Bürgergeld überbrücken, weil sie dafür zu viel Vermögen hat. Zwar gilt beim Bürgergeld eine Karenzzeit, in der mehr Vermögen behalten werden darf als danach, aber auch in der Karenzzeit wird Vermögen ab 40.000 € aufs Bürgergeld angerechnet.
Frau Müller kann zur Überbrückung dieser Zeit 4 Monate früher in die Altersrente mit Abschlägen gehen. Ihre Altersrente ist dann aber dauerhaft um 1,2% niedriger als die abschlagsfreie Altersrente. Um das zu vermeiden, kann sie in den 4 Monaten von ihrem Ersparten leben. Weil bei der heute hohen Lebenserwartung lange Zeiten in der Altersrente zu erwarten sind, lohnt sich das wahrscheinlich für sie.
Bei der Rentenversicherung kann sie sich ausrechnen lassen, wie sich die Abschläge auf ihre Rente auswirken würden.
Während Frau Müller ihre Wartezeit von 35 Jahren für die abschlagsfreie Rente für Menschen mit Schwerbehinderungen rechtzeitig erfüllt hat, können andere Menschen die Wartezeit nie erfüllen, z.B. weil sie selbstständig tätig waren oder im Ausland gearbeitet haben. Auch wer die 35 Jahre nur um einen einzigen Monat verfehlt, kann die Rente für Menschen mit Schwerbehinderungen nicht in Anspruch nehmen. Die Rentenversicherung informiert, was zur Wartezeit zählt, ob sie schon erfüllt ist und wieviel Zeit ggf. noch fehlt.
Manche Menschen haben Anspruch auf Rente für besonders langjährig Versicherte. Dafür beträgt die Wartezeit 45 Jahre. Das ist eine vorzeitige Rente ohne Abschläge. Bei der Wartezeit von 45 Jahren zählen viel weniger Zeiten dazu als bei der Wartezeit von 35 Jahren. Zum Beispiel zählt die Zeit der Schul- und Hochschulausbildung nicht zur Wartezeit von 45 Jahren und auch nicht die Zeit mit Bezug von Bürgergeld. Auch der Bezug von Arbeitslosengeld in den letzten 2 Jahren vor dem Renteneintritt zählt in der Regel nicht dazu.
Bei der Rente für besonders langjährig Versicherte gilt aber ebenfalls: Auch wer die Wartezeit nur um einzigen Monat verfehlt, kann diese Rente nicht in Anspruch nehmen.
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