Frau Müller möchte wissen, ob und unter welchen Voraussetzungen sie als rechtliche Betreuerin ihrer Schwester (Frau Müller-Schulze) eine Sterilisation zur dauerhaften Empfängnisverhütung in die Wege leiten kann. Kann Frau Müller-Schulze trotz ihrer Psychosen, dem damit verbundenen Wahn und ihrer Alkoholabhängigkeit selbst darüber entscheiden, ob sie eine Sterilisation möchte oder nicht?
Frau Müller-Schulze hat immer wieder ungeschützten Geschlechtsverkehr, weil sie aufgrund eines Wahns glaubt, durch die Verwendung von Kondomen oder ähnlichen Verhütungsmethoden vergiftet zu werden. Sie wäre aber mit einem Kind komplett überfordert. Wegen ihrer schweren Schizophrenie verkennt sie die Realität und glaubt, sie werde auch durch empfängnisverhütende Medikamente vergiftet, weshalb sie zu deren Einnahme nicht bereit ist. Eine gynäkologische Behandlung – egal welche – will sie nicht zulassen, weil sie aufgrund ihres Wahns glaubt, mit ihr würden dabei gefährliche medizinische Experimente durchgeführt.
Frau Müller-Schulze hat bereits ein Kind, das wegen familiengerichtlicher Maßnahmen in einer Pflegefamilie lebt, weil durch die Suchterkrankung und die Psychosen das Wohl des Kindes gefährdet war. Frau Müller-Schulze leidet sehr unter der Trennung von ihrem Kind. Aus Angst, dass ihr ein weiteres Kind ebenfalls weggenommen würde, möchte sie nie mehr schwanger werden und droht, im Fall einer erneuten Trennung von einem Kind, sich das Leben zu nehmen. Sie spricht davon, dass sie sich deshalb sterilisieren lassen will, aber aus Angst vor den befürchteten medizinischen Experimenten nicht mit „schulmedizinischen Methoden“ sondern bei einer Heilpraktikerin.
Aufgrund der Alkoholabhängigkeit bestünde bei einer Schwangerschaft der Frau Müller-Schulze außerdem das Risiko, dass das Kind durch den Alkohol im Mutterleib gesundheitlich geschädigt würde.
Frau Müller darf als rechtliche Betreuerin ihrer Schwester nicht in deren Sterilisation einwilligen.
Soll Frau Müller-Schulze dennoch sterilisiert werden, kann nur ein sog. Sterilisationsbetreuer in die Sterilisation einwilligen. Das Betreuungsgericht muss diesen als zusätzlichen Betreuer bestellen. Weder ein Betreuungsverein, noch eine Betreuungsbehörde darf diese Aufgabe bekommen.
Außerdem muss das Betreuungsgericht der Sterilisation vorab zustimmen.
Damit das Betreuungsgericht einer Sterilisation von Frau Müller-Schulze zustimmt, müssten alle folgenden Voraussetzungen vorliegen:
Der natürliche Wille ist zu unterscheiden vom freien Willen. Wenn eine Person wegen Krankheit und/oder Behinderung nicht einsichtsfähig ist oder nicht nach ihren Einsichten handeln kann, kann sie sich zu den Dingen, die davon betroffen sind, keinen freien Willen mehr bilden. Ihr natürlicher Wille kann dem widersprechen, was sie gewollt hätte, wenn ihr Wille frei gewesen wäre. Näheres unter Rechtliche Betreuung.
Frau Müller-Schulzes Wille ist durch die Psychosen und den damit verbundenen Wahn nicht mehr frei, denn sie kann dadurch Vieles nicht mehr einsehen, z.B. dass ihr weder Vergiftung noch medizinische Experimente drohen.
Das bedeutet aber nicht, dass sie keinen Willen mehr hat. Der Wille von Menschen, deren Wille nicht (mehr) frei ist, heißt natürlicher Wille.
Frau Müller-Schulze kann derzeit nicht selbst in eine Sterilisation einwilligen. Sie kann nämlich durch ihren Wahn z.B. nicht mehr verstehen, dass die Verwendung anderer Verhütungsmethoden nicht mit den von ihr befürchteten Vergiftungen und Experimenten verbunden wäre und dass die Heilpraktikerin sie nicht sterilisieren kann. Näheres zur Einwilligungsfähigkeit unter Geschäftsfähigkeit.
Bei Frau Müller-Schulze muss auch das Betreuungsgericht derzeit eine Sterilisation ablehnen.
Begründung:
Wenn Frau Müller-Schulze nicht verhütet, aber ungeschützten Geschlechtsverkehr hat, ist es wahrscheinlich, dass sie schwanger wird.
Bis Ende 2022 war gesetzlich ausdrücklich geregelt, dass Folgendes als Gefahr für die seelische Gesundheit gilt, die eine Sterilisation bei Einwilligungsunfähigkeit rechtfertigen kann: Behinderungsbedingt könnte eine Trennung vom eigenen Kind nötig werden.
Dies wurde aus dem Gesetz gestrichen, weil eine solche Trennung gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstoßen würde. In Artikel 23 Abs. 4 Satz 2 der Konvention steht: "In keinem Fall darf das Kind aufgrund einer Behinderung entweder des Kindes oder eines oder beider Elternteile von den Eltern getrennt werden."
Zwar kann die Gefahr einer Trennung vom Kind trotzdem noch immer Grund für eine Sterilisation sein, aber Menschen mit Behinderungen wie Frau Müller-Schulze haben ein Recht auf Hilfe, um ihr Kind selbst betreuen zu können, z.B. auf Elternassistenz.
Ob Frau Müller-Schulze infolge einer Schwangerschaft Lebensgefahr oder eine schwerwiegende Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands droht, hängt in ihrem konkreten Fall davon ab, ob sie mit Unterstützung ihr Kind behalten kann oder ob es ihr weggenommen wird – dann droht sogar der Suizid. Möglicherweise könnte diese Gefahr also durch Hilfen wie die Elternassistenz und Hilfen zur Erziehung ohne Trennung vom Kind abgewendet werden, so dass diese Voraussetzung für eine Sterilisation trotz fehlender Einwilligungsfähigkeit nicht vorläge.
Die Schwangerschaft könnte wahrscheinlich auch durch andere Empfängnisverhütungsmethoden verhindert werden, z.B. durch das Einsetzen einer Hormonspirale. Dafür wäre jedoch eine Zwangsbehandlung nötig, weil Frau Müller-Schulze wegen ihres Wahns aus Angst vor Experimenten das nicht freiwillig durchführen lassen würde. Die Verhütung durch eine ärztliche Zwangsmaßnahme müsste – wenn sich ihr Wahn nicht bessern sollte – mehrfach durchgeführt werden, was weder vom Betreuungsgericht genehmigungsfähig noch zumutbar wäre. Freiheitseinschränkungen, die Geschlechtsverkehr verhindern, sind ihr auch nicht zumutbar.
Die Sterilisation entspricht allerdings auch nicht dem sog. natürlichen Willen von Frau Müller-Schulze, da sie zwar sterilisiert werden will, aber nicht mit „schulmedizinischen Methoden“.
Frau Müller-Schulzes Wahn könnte außerdem wieder verschwinden, so dass nicht sicher ist, ob sie bezogen auf die Sterilisation dauerhaft einwilligungsunfähig bleibt.
Dass bei einer Schwangerschaft der Frau Müller-Schulze eine Schädigung des Kindes im Mutterleib durch Alkohol wahrscheinlich ist, ist für die Entscheidung des Betreuungsgerichts nicht relevant. Eine Zwangssterilisation um zu verhindern, dass ein Kind mit Behinderung geboren wird, ist in Deutschland verboten.
Frau Müller kann sich über Verhütungsmethoden für Frau Müller-Schulze beraten lassen und versuchen, diese trotz des Wahns zu überreden, freiwillig zu verhüten.
Sollte Frau Müller-Schulze schwanger werden, kann Frau Müller ihr helfen, Elternassistenz und Hilfen zur Erziehung für das Kind selbst zu beantragen. Kann Frau Müller-Schulze auch mit Hilfe die Anträge nicht selbst stellen, kann Frau Müller die Anträge stellen. Sofern das Betreuungsgericht Frau Müller diese Aufgabenbereiche noch nicht übertragen haben sollte, muss Frau Müller vorab einen Antrag auf Erweiterung ihres Aufgabenkreises beim Betreuungsgericht stellen.
Bei Einwilligungsunfähigkeit bezogen auf einen Schwangerschaftsabbruch (Abtreibung) kann Frau Müller ggf. als Betreuerin über einen nichtrechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch bei Frau Müller-Schulze entscheiden, wenn die Voraussetzungen (medizinische oder kriminologische Indikation) dafür vorliegen. Näheres unter Schwangerschaftsabbruch.
Bei medizinischer Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch (z.B. Lebensgefahr für die werdende Mutter) kann dieser unter Umständen sogar gegen den sog. natürlichen Willen von Frau Müller-Schulze durchgeführt werden. Natürlicher Wille ist das, was Frau Müller-Schulze unter Einfluss ihres psychotischen Wahns will. Voraussetzung dafür ist, dass sie den Schwangerschaftsabbruch nach ihrem sog. mutmaßlichen Willen gewollt hätte. Der mutmaßliche Wille ist das, was sie wahrscheinlich ohne die Einschränkungen durch die Psychosen gewollt hätte.